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Eine Zeitreise durch die 50er

Der 28. April 1955. Ein Donnerstag. Ich bin endlich da. Mit 4,5 Kilo ein Wonneproppen, ein wohlgenährtes Baby des Wirtschaftswunders. Vielleicht sogar ein Wunderkind. Neun Monate zuvor hat Helmut Rahn uns zum Wunder von Bern geschossen. Ganz Deutschland feiert, jubelt, ist tagelang im Freudentaumel, im Ausnahmezustand … mein Vater vermutlich auch. 

Dabei sieht er nicht, wie der Boss aus dem Revier die Lederkugel ins Netz hämmert. Zu viele Menschen drängen sich vor dem Schaufenster von Radio Klein auf der Hochstraße, wollen keine Sekunde der Übertragung des WM-Endspiels auf dem TV-Bildschirm im Geschäft verpassen. 

Mein Vater steht ganz hinten. Er war nie ein Drängler, kein Mann für die erste Reihe.

© Heinz Müller, Stadtarchiv Bottrop

Wir sind schon mittendrin in der Innenstadt, und so kann sie eigentlich starten, meine fantastische Zeitreise durch die 50er Jahre und durch Bottrop; es ist eine Reise über Hochstraße, Hansastraße und Horster Straße, zu Kneipen, Kinos und Kaufhäusern, zu Plätzen, Platzhirschen und Pferdemarkt bis hin zum Wasserschlösschen und zum Wandel meiner Heimatstadt. 

Der Krieg ist vorbei, der Trümmerschutt noch längst nicht abgeräumt, die aller letzte Straßenbahn  nicht verschrottet. Für Altes bleibt kaum noch Platz. Was die Bomben nicht zerstört haben, machen nun die Stadtplaner mit dem Abbruchbagger platt. Ihr Auftrag: Aus dem Dorf Bottrop soll eine lebendige, funktionierende Großstadt werden, mit einem modernen Verkehrssystem, mit Einkaufserlebnissen in Fußgängerzonen, mit neuen Geschäften, mit Häusern und Wohnungen, mit Firmen, Arbeits- und Ausbildungsplätzen. 

Unsere Heimat ist im Aufbruch, im Umbau, startet durch

Unsere Heimat ist im Aufbruch, im Umbau, startet durch; aber es wird lange dauern, bis die Spuren des Krieges entsorgt sind. Dafür krempelt eine gebeutelte Generation die Ärmel auf und tankt neues Selbstbewusstsein. Wir sind wieder wer – auch dank Helmut Rahn und seinem Tor in der 84. Minute. 

Die Zeitungen verschlafen meine Geburt, die Redakteure können ja nicht wissen, dass ich irgendwann Bottrop-Schreiber werde. Die WAZ berichtet auf der Titelseite lieber darüber, dass der DGB die 40-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich fordert, und die Ruhr-Nachrichten, damals noch mit Bindestrich,  sind die 10 000 hässlich-grünen Kacheln für das Stenkhoffbad einen Aufmacher wert. Das Schwimmbad an der A 2 gibt es noch, Gott sei Dank! Meine Güte, wie oft lag ich auf der Wiese direkt an der Schallschutzwand, und dahinter rauschte der Verkehr über die A2.

Erst Tage später, in der Ausgabe vom 18. Mai, entdecke ich einen Artikel, der mich interessiert: Der VfB hat das entscheidende Spiel um den Einzug in die Oberliga in Rheydt gegen den Spielverein mit 1:2 verloren. 5000 Bottroper kehren enttäuscht zurück, ertränken ihren Kummer an unseren Theken, davon gibt es damals mehr als genug. Der schwarz-weiße Traum vom Aufstieg ist geplatzt. Wieder einmal.

Zwei Jahre, zwei Monate und sieben Tage vor meiner Geburt, am 21. Februar 1953, erblickt Theodor Albrecht in meinem Kreißsaal das Licht von Bottrop, zwei Tage später meldet sein Vater  ihn im Rathaus an. Klein-Theo macht Bottrop als 100 000. Bürger zur 49. deutschen Großstadt.  Zum Dank schenkt ihm die Stadtverwaltung den kostenlosen Schulbesuch und 1000 Mark - für jeden der 100 000 Bürger einen Pfennig.

Als 100 000. Bürger macht Theodor Bottrop zur 49. deutschen Großstadt.

So richtig koscher läuft die Sache in den Amtsstuben nicht ab. Bevor Theo im Rathaus amtlich notiert wird, lassen die Eltern von Hildegard Weber ihre Tochter  unter der Nummer 100 000 in Bottrop registrieren. Doch die Stadt will nicht mit einem zugezogenen, 10-jährigen Mädchen in die Chroniken eingehen, sie will lieber mit einem neuen Erdenbürger Geschichte schreiben und feiern. 

Immerhin. Die Tochter eines Bergmanns wird mit einem Gratulationsschreiben und 250 Mark abgefunden. Den Großteil legt die Mutter auf die hohe Kante, aber sie fährt mit Hildegard auch nach Essen, um ihr ein Kleid zu kaufen. 

Typisch Bottroper. Sie sparen, aber sie gönnen sich auch etwas.

Lieber Theodor, auf meiner Reise in die Vergangenheit wären wir ein gutes Duo gewesen, der 100 000. Großstadtbürger und der Bottrop-Schreiber. Doch ich kann Dich nicht erreichen. Du sollst irgendwo im Rheinland wohnen. Selbst Heike Biskup, unser lebendes Archiv, das ansonsten jeden Menschen und Moment in der Stadtgeschichte kennt, kann mir nicht weiterhelfen. Ich vermute, Deine Liebe zu einer Frau war stärker als zu Deiner Heimat. Das wäre auch die einzige Entschuldigung, die ich gelten lasse. 

Du hast auf meiner fiktiven Tour mit Fantasie, Chronisten und Zeitzeugen als Reiseleiter eine Menge verpasst, unter anderem einen ausgiebigen Kneipenbummel. Mein Abstecher in die 50er Jahre beginnt dort, wo das Herz der Innenstadt schlägt, natürlich auf dem Pferdemarkt. Hier nehme ich mir noch schnell einen zur Brust im Gasthaus Schäfer, in einer der beliebtesten Kneipen Bottrops. Die Elektrische ruckelt auf Schienen an mir vorbei, zwischen wartenden Straßenbahnen und Omnibussen fahren Autos, versuchen Fußgänger, die Straße zu überqueren; der Pferdemarkt ist der wichtigste Verkehrsknotenpunkt der Stadt, zuweilen chaotisch und hektisch. Er diente aber auch als beliebtester Treffpunkt Bottrops. Wie oft habe ich mich an der Persil-Uhr und am Pavillon mit Freunden getroffen und mit Mädels zum ersten Date verabredet, in meinen besten Jeans, nervös bis in die gegelten Haarspitzen. 

Karstadt eröffnet in Bottrop© Stadt Bottrop

Unsere Großväter nannten den Pavillon Wasserschlösschen. Eine Treppe an der Seite des sechseckigen Backsteinbaus mit dem Schieferdach führt hinunter in den Keller, zu den Toiletten, zur „Bedürfnisanstalt für Damen und Herren“.  

Am Verkaufsschalter wartet Dieter Ernst auf mich. Seinen Eltern gehört die Goldgrube, die 13 Stunden am Tag geöffnet hat. Vater und Mutter teilten sich den Dienst. Ihr Sohn, Schüler am Städtischen Jungengymnasium, hilft stundenweise aus. Dieter hat mir viel zu erzählen. Die Getränke lagern in einer Holztruhe. Zur Kühlung der Afri-Cola- und Bluna-Flaschen wird jeden Morgen mit Pferd und Wagen eine große Stange Eis geliefert. In den Nachkriegsjahren verkaufen sie Zigaretten der Marken Colli, Texas, Red Rock, Old Joe, Finas, Mercedes und Tula, vier Zigaretten in einer Packung zu 30 Pfennig. Auch Overstolz und Eckstein Nr. 5 sind beliebt. Der Werbespruch: „Grün ist die Packung, die Heide ist drin.“  Es gibt lose Bonbons, für 5 Pfennige Blockschokolade, Lakritzstangen und -schnecken. Villosa-Hustelinchen werden zu je 100 Gramm in Cellophantüten verpackt.

Vor der Tür des Pavillons  fährt die  Linie 23 der Vestischen Straßenbahn nach Buer und Horst, die Linie 19 nach Gladbeck, Osterfeld und Sterkrade. Die Linie 13 der Essener Verkehrs AG hat ihre Endstation  rechts vom Wasserschlösschen bei der Wirtschaft Schäfer, die der Stadtsparkasse weichen muss. Die Banker sichern sich das Sahneplätzchen zwischen Osterfelder Straße und Schützenstraße. Dieter, später Besitzer von Spickenbaums Mühle, kennt alle Fahrer und Schaffner, darf umsonst mitfahren. Sein Vater Heinrich, ebenso geschäftstüchtig wie später sein Filius, stellt nach der Währungsreform von 1948 den ersten Geldspielautomaten der Stadt auf, die Bottroper stehen am Pferdemarkt Schlange vor der Glücksmaschine. 

Sein Sohn muss jeden Sonntag arbeiten. So sieht Dieter bei Heimspielen des VfB nie ein Tor der schwarz-Weißen, aber er hört alle, der Jubel der Anhänger schallt bis zum Pavillon.

1956 gestaltet die Stadt den Pferdemarkt um. Aus der Bedürfnisanstalt wird Schloss Pipi, aus der Trinkhalle ein Kiosk mit Schalterverkauf. Bottrop ist wieder einmal um ein Stück Nostalgie ärmer. 

Die Blumenstraße wird abgebunden, ist nur noch für Fußgänger durch einen Torbogen zu erreichen. In der Verlängerung der Deutschen Bank ersteht eine neue Häuserfront, das gute, alte Kolpinghaus verschwindet in der zweiten Reihe. Das ehemalige Waisenhaus neben der Martins-Kirche, ursprünglich das erste Bottroper Krankenhaus, überlebt die Planungen nicht, muss Geschäften weichen. Bald haben Autos, Straßenbahnen und Busse auf Hansa- und Hochstraße nichts mehr zu suchen. Wir sollen ungestört einkaufen, Geld ausgeben können.

Es wird Zeit für ein zweites Pils, nun mit Dieter bei Bergermann am Kreuz, in einer der ältesten Bottroper Gaststätten. Chefin Marta Schuhknecht, die seit dem Frühjahr 1956 hier das Sagen hat, steht an ihrem Lieblingsplatz, an der Tür, hat alles im Blick. Die resolute Wirtin schmeißt ohne Erbarmen Gäste raus oder lässt sie gar nicht erst herein. Zwei Export bitte! Fast flüstern wir unsere Bestellung.

Prost! Auf Bottrop, auf die Menschen der wilden Fünfziger! Rahn müsste schießen, Rahn schoss. Und in der hintersten Reihe vor Radio Klein jubelte ein Mann und ging nach Hause. Als Weltmeister. Mein Weltmeister.

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