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Ein Blick vom Rathausturm

1974, ein gutes Jahr: Wir wurden Weltmeister, ich schaffte das Abitur am Vestischen Gymnasium, und das Beste kam zum Jahresende: Ich verliebte mich in ein Mädchen, 17 Jahr, blondes Haar, natürlich aus Bottrop. Udo Jürgens hätte seine Freude gehabt. Um meiner neuen Liebe zu imponieren, habe ich den Hausmeister des Rathauses überredet, uns Silvester auf den Turm zu lassen. Der Plan ging auf, mit einem Feuerwerk der Emotionen um und nach Mitternacht.

Fast ein halbes Jahrhundert später, nach 153 Stufen, mittlerweile nicht mehr schwindelfrei, bin ich wieder ganz oben, klammere mich an die steinerne Brüstung und schaue vom Turm hinunter; auf mein Bottrop, auf meine Heimat, die ich nie verlassen habe und auch nicht verlassen wollte. Ich kenne so viele, die es hinauszog in die weite Welt und deren Herz dann doch an der Emscher klebte. 

Herrmann Beckfeld trifft sich auf dem Rathausturm mit Andreas Pläsken vor dem Rathaus in Bottrop© FUNKE Foto Services

Einmal Bottrop, immer Bottrop. 

Ich schaue hinunter auf mein Leben, auf meine Erinnerungen. Hinter vielen Gebäuden, die ich sehe, steht auch meine Geschichte. Eine Geschichte, die am 28. April 1955 im Marienhospital begann. Hier bin ich geboren. So wie meine Frau, meine Töchter. 

Bottrop aus der Taubenperspektive. Das ehemalige Finanzamt schräg gegenüber vom Rathaus, ich wollte Steuerinspektor werden. Meine Bilanz: mehrere deutsche Fußball-Meisterschaften mit der Finanzamt-Mannschaft, aber Abbruch der Ausbildung. Die Leidenschaft für den Journalismus war größer. 

Ich schaue hinunter auf mein Leben, auf meine Erinnerungen.

Die Gladbecker Straße, wir nennen sie heute die Gla. Sie erwacht, wenn der Feierabendmarkt schließt. Mit Hürter, meiner Stamm- und Ruhrgebietskneipe, die überlebt hat; ein Bottroper Fossil, seit 20 Jahren meine Talkbühne für Heimspiele mit Sport- und Showgrößen. 

Die Post. Wie schön war der Wochenmarkt auf dem Berliner Platz. Generationen von Kindern haben Kaninchen gestreichelt, standen Schlange vor den Fischbuden. Ein Brötchen mit Matjes und Zwiebeln. Ja, zum Hieressen. Ein Ritual am Samstag.

© Stadt Bottrop

In der Ferne windet sich die Skihalle den künstlichen Berg hinunter. Als Journalist berichtete ich im August 2000 über die ersten Pläne für das Alpincenter, das Marc Girardelli in unserem Rathaus vorstellte. Viele waren skeptisch, ich war es auch, als ich vor dem aufwendigen Modell stand. Konnte das gutgehen, Skifahren auf der Halde unter einem Dach? Der vierfache Ski-Weltmeister aus Österreich rutschte aus, die eiskalte Halle blieb standhaft.

Unser Tetraeder. Ein 210 Tonnen schweres Kunstwerk aus Stahl auf dem Haldengipfel in Batenbrock, eigenwillig, mutig, unverrückbar, ein Hingucker. Seit 1995 die ungewöhnlichste Pyramide des Ruhrgebiets. Die steile Treppe hinunter führt zu einer der letzten Pommesbuden in Bottrop. Sie und Currywurst mit Pommes-Schranke sterben weg wie der Kiosk, die Kneipe, der Taubenverein, die Kirche.

Die Halde Haniel, mein fast mystischer Lieblingsplatz in Bottrop. Ich mag die Aussicht, die Ruhe, die Einsamkeit, die Totems, die Bergarena, die Aufführungen. Fast immer hat es aus Kübeln geregnet, immer war es voll, ausverkauft. Aber Bottroper haben schon lange gelernt, zusammenzurücken, zu teilen und zu tauschen. Kartoffelsalat aus der Tupperdose gegen ein Bottroper Bier aus der Kühltasche. Papst Johannes Paul II. hinterließ unter dem großen Holzkreuz auf dem Gipfel eine Botschaft aus Beton, die zu uns passt: Die Arbeit gehört zum Menschen … 

Unten, am Fuß der Halde, rostet das Bergwerk mit seinem standhaften Förderturm neuen Aufgaben entgegen. 2018 war hier endgültig Schicht, doch das Glückauf lebt weiter. Ich arbeitete in den Ferien in der Gärtnerei der Zeche Haniel. Freitags bekamen wir den Lohn in der Tüte, ich fühlte mich wie ein richtiger Bergmann. Mehr hierzu später. Unsere Heimat mit und ohne Kohle ist eine eigene Geschichte wert.

Freitags bekamen wir den Lohn in der Tüte, ich fühlte mich wie ein richtiger Bergmann.

Gebäude verdecken den Blick auf meine Kindheit. Meine Eltern waren Macher des Wirtschaftswunders, hatten ein Haus gebaut Auf der Koppe, einer Sackgasse, einem Spielparadies. In der Nähe lockten Abenteuer. Im Winter rutschten wir mit dem Schlitten den Windmühlenweg hinunter, auf dem brachliegenden Gelände der Ziegelei Heiermann versteckten wir uns in abbruchreifen Hallen; wehe, wenn wir erwischt wurden; heute lernen hier die Schüler des Heinrich-Heine-Gymnasiums. 

Es waren nur einige Meter zur Schule-West. Nie werde ich vergessen, was  ich in meinem Leben zuerst bewusst wahrgenommen habe: Ich war fünf und ein Clown, ein trauriger Clown. Meine entzündete Nase strahlte wie ein feuerroter Ball; noch erbärmlicher sah das erste Zeugnis aus, das ich meinem Vater in der Küche mit Linoleumboden, Eckbank und Speisekammer vorlegte. Er sagte, was dazu damals im Revier zu sagen war: „Wenn Du nicht lernst, musst Du in den Pütt.“ 

Die Stationen meiner Kindheit, nicht ganz untypisch für gebürtige Bottroper. Ich diente als Messdiener der St.-Cyriakus-Gemeinde, ja, es war ein Dienen, denn der Pfarrer teilte mich mit Vorliebe von montags bis mittwochs um 6.15 Uhr für die Messe ein, im linken Seitenschiff des Gotteshauses allein mit einem Uralt-Priester und einer noch älteren Frau, kniend auf der hintersten Bank. Einmal fehlte ich, hatte vergessen, auf den Dienstplan zu schauen. Am nächsten Morgen ließ mich der Pfarrer vor versammelter Klasse strammstehen. Seitdem muss die Kirche ohne mich auskommen. Als die Eltern mich später zum Gottesdienst am Samstagabend schickten, guckte ich heimlich die Sportschau auf dem Bildschirm hinter der Schaufensterscheibe von Radio Klein auf der Hochstraße. Dessen Chef holte den ersten Fernseher in die Stadt. Aber auch das ist eine ganz andere Geschichte.

Sonntag war Vatertag, Taubentag. Wir gingen morgens zu Vaters Elternhaus an der Kirchhellener Straße, nebenan steht heute das rote Pferd, es leuchtet bis zur Turmspitze hinauf. Meistens waren wir schneller, als die Tauben meines Onkels fliegen konnten, damals noch ohne elektronischen Chip am Fußgelenk. Ich durfte nicht auf der Terrasse warten, es würde die sensiblen Tiere abschrecken. Irgendwann, so befürchte ich, wird der letzte Schlag abgerissen werden; es bleibt kein Platz für die Rennpferde des kleinen Mannes, für Tradition, für Nostalgie. Ich werde einen Züchter besuchen.

Herrmann Beckfeld trifft sich auf dem Rathausturm mit Andreas Pläsken vor dem Rathaus in Bottrop© FUNKE Foto Services

Mit reichlich Beton am Lamperfeld versperrt Oliver Helmke die Sicht auf meine zweite Heimat in der Jugendzeit, auf das Jahnstadion, das damals noch dem Fußball gehörte; es roch nach Zigarren und Kaugummi, die Männer trugen Hüte, und ich kletterte über den Zaun. Es sind fürs Leben eingebrannte Erinnerungen an den Sieg des VfB gegen die Rot-Weißen aus Essen vor 15000 Zuschauern, an Jugendbetreuer wie Otto Geise, der Süßes für unsere Weihnachtstüten erbettelte, an mein erstes Tor als Schüler im verwaschenen schwarz-weißen Trikot auf dem Aschenplatz.

Ein Gänsehaut-Moment: Aus 51 Meter Höhe starre ich in die Tiefe, hinweg über die in Stein gehauenen sechs Gestalten von der Rathausgalerie. Kaufmann, Bauer, Schmied, Bergmann, Baumeister und Wissenschaftler thronen über dem Arkadengang, stehen für Handel, Landwirtschaft, Handwerk, Industrie und Wissenschaft in unserer Stadt. Gemeinsam schauen wir auf unseren prächtigen, stolzen Rathausplatz. Ob ihnen der Brunnen auch nicht gefällt? 

Trotzdem liebe ich den Platz. Er steht für Lebensfreude, für den Zusammenhalt von Bottropern, die keine Chance auslassen, um miteinander zu reden, zu feiern; der Platz ist ein nostalgisch-schönes Refugium, umgeben, geschützt von Rathaus und mächtigen Gebäuden. Ein wohltuendes Gegenstück zu den leerstehenden Ladenlokalen und Passagen in der Innenstadt.

Ein Gänsehaut-Moment: Aus 51 Meter Höhe starre ich in die Tiefe

Schöne Erinnerungen. Die Sommerabende auf dem Feierabendmarkt, das Anglühen auf dem Weihnachtsmarkt mit Livemusik und angestrahlten Rathausfassaden, allem voran unsere Hochzeit im Standesamt. Nach dem Jawort haben wir in der Rathausschänke auf das neue Glück angestoßen; nicht jeder Wirt, nicht jeder Umbau hat dem Lokal an der Straßenecke gutgetan.

Neben der Theke trafen sich an einem langen Tisch Schützen- und Stammtischbrüder. Ernst Wilczok, mit Unterbrechungen 35 Jahre lang unser Oberbürgermeister, spielte dort gerne Skat. Wenn der dritte Mann fehlte, ließ er nicht selten meinen Vater anrufen, der das Rechnungsprüfungsamt leitete, und beorderte ihn in die Kneipe. 

In Gedanken gehe ich auf der Kirchhellener Straße Richtung Volksbank; deren Keller diente eine Zeitlang als Lokal. Hier habe ich meine erste Lesung als Buchautor gehalten, mit Uwe Seeler nach einem Benefizspiel in Lünen einige Gläser Altbier getrunken. In dem Volksbank-Gebäude befand sich die Redaktion der Ruhr Nachrichten. Als freier Mitarbeiter kümmerte ich mich während des Studiums um den Lokalsport. Ich war mehr in der Redaktion als im Hörsaal, brach schließlich auch mein Studium ab. Ende März 2006 musste ich die Kollegen über das Aus der Bottroper Lokalausgabe informieren; es war mein schwerster Gang als Chefredakteur.

In der Tanzschule Thiemer, wo sonst, versuchte ich, tanzen zu lernen. Es war eine Fehlinvestition, ich musste erkennen, dass ich nicht nur schüchtern, sondern auch absolut talentfrei war. Unsere, also meine Lehrerin tanzte immer mit dem schlechtesten Schüler. So stolperte ich jeden Dienstag mit ihr über das Parkett.

Das Vestische Gymnasium, anfangs am Heidenheck, heute an der Horster Straße. Ich war in der neuen Schule einer der ersten 60 Schüler, wir wurden in zwei Klassen aufgeteilt. Anfangs halfen Lehrer-Oldies vom Jungengymnasium aus, erfahrene, menschliche Pädagogen: Backwinkel, Schimmöller, Klingelhöfer. Unglaublich. Letzterer hatte schon meinen Vater in Latein unterrichtet.

Unsere Kneipen in der Innenstadt, die meisten gibt es nicht mehr. Das alte Kolpinghaus, vorne mit der Kneipe, an der Seite mit dem großen Saal und vielen Hinterzimmern. Rosenmontag schwappte die Stimmung über, und ich war mittendrin. Das Piccadilly, Bistro und Diskothek, hier belohnte ich mich nach jeder Abiturarbeit mit drei Gläsern Alt. Studio B im Rücken der Schauburg an der Hochstraße hatte sonntags geöffnet, die Disco war ein Treffpunkt für Fußballer, die in der Nacht vor den Spielen nicht in der Stadt gesehen werden durften, vom Trainer schon gar nicht.

Das Stenkhoffbad, meine alte Liebe. Wir standen abends vor dem Büro des Bademeisters an, um beim Säubern zu helfen; unsere Belohnung: Freikarten. Im Ohr bleiben Drohungen des heimlichen Stenkhoffbad-Chefs , nicht vom Rand ins Becken zu springen. Und das Rauschen der Autos auf der A2.

Die Schauburg an der Hochstraße. Winnetou durfte im Film nicht sterben, unser letztes Kino und Theater schon. Selbst August Everding kämpfte vergebens.

Januar 2023. Ich steige die 153 Stufen vom Glockenturm hinunter, darf noch in den Keller des Rathauses, öffne die schweren Türen der Gefängniszellen. Was ich bis dahin nicht wusste: Eine Zelle hatte sogar getrennte Plumpsklos für Frauen und Männer. 

Bottrop ist immer für Überraschungen gut. Auch deshalb liebe ich meine Stadt.

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