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Die Zeitreise geht weiter

Meine Zeitreise durch die 50er Jahre geht weiter. Mit Pater Leppich, dem populären Wanderprediger auf dem Berliner Platz, mit hübschen Mädchen, die auf meinen Traumwagen und damit ein bisschen auch auf mich abfahren – mit Bottrops bekanntestem Kellner, der eigentlich Opernsänger werden wollte, und mit der Eröffnung von Althoff, dem neuen Einkaufstempel in der Innenstadt. 

Bitte noch eine Runde Export. Beim Blick aus den Fenstern der Kneipe Bergermann am Kreuz schaue ich auf  das Schuhgeschäft Böhmer, das Bekleidungshaus Rebbelmund und die Heuer-Ampel über der Kreuzung Gladbecker/Horster Straße. Die große Uhr mit den rot-grünen Feldern ist eine Sensation in der Stadt. Im Zeitlupentempo kreist der weiße Zeiger von einem Feld zum anderen, bestaunt von wartenden Fußgängern, Rad- und Autofahrern. Das Verkehrszeichen besingen die Narren auf der Kolping-Prunksitzung in der Karnevalssession 1950/51: „Am Altmarkt hängt `ne Ampel.“  

Der Berliner Platz - damals noch besser bekannt als Trappenkamp - mit dem großen Wochenmarkt Ende 50er Jahre.© Ludwig Windstosser / Stadtarchiv

Am Heidenheck und an der Kreuzung B 224/Prosperstraße  schweben zwei weitere Uhren, erfunden von Josef Heuer, einem Unternehmer aus Iserlohn. Ich bin auf den guten Mann nicht gut zu sprechen. Bei meiner Führerscheinprüfung muss ich den Platz am Steuer des Fahrschulwagens schon nach 20 Sekunden wieder räumen. Ich bin so nervös, dass ich den Zeiger auf dem roten Feld einfach übersehe. Der zweite Versuch klappt, fortan fahre ich mit meinem Traumauto, einem uralten, nicht mehr ganz weißen Karmann Ghia Cabrio, zur Schule – natürlich mitten durch die City über die Horster Straße. 

Die Schienen sind da längst weg, die Fahrbahn ist zweispurig, und ich bin stolz wie Oskar, denn unterwegs steigen die hübschesten Mädchen der Stadt ein, die mich zuvor völlig ignoriert haben. Endlich muss ich nicht mehr mit dem Gedanken spielen, im Freibad Hesse vom Zehner zu springen, um den Schönheiten zu imponieren. Nun hatte ich ja meinen Schiiia, immer für 5 Mark Sprit im Tank und den Kassettenrekorder auf der Rückbank, weil das alte Radio nur in scharfen Rechtskurven röhrte – und nicht wie gewünscht auf dem Parkplatz hinter dem Marienhospital. 

Ich ziehe weiter, lasse den Berliner Platz links liegen. Wenn Pflastersteine erzählen könnten … mehr als 10 000 Menschen begeistert Oberbürgermeister Ernst Wilczok am 1. Mai 1950 mit seiner mitreißenden Rede; dass Millionen auf den Schlachtfeldern verbluten, dürfe nie wieder vorkommen, fordert er. 20 000 Gläubige feiern Monate später das Jubiläum 800 Jahre St. Cyriakus-Kirche, überall in der Innenstadt wehen Fahnen, in goldgelben Dahlienblüten leuchtet die Zahl 800 auf einer riesigen grünen Tannenwand. Pfingsten 1951 strömen 30 000 Oberschlesier  zum Trappenkamp, „die 700-Jahrfeier der Stadt Gleiwitz war ein machtvolles Bekenntnis zur oberschlesischen Heimat“, schreibt der Bottroper Stadtanzeiger. 

Wenn Pflastersteine erzählen könnten...

Auch Pater Johannes Leppich zieht 1957 die Massen an, das „Maschinengewehr Gottes“ schießt mit frechen Floskeln und lauten Flüchen gegen Zügellosigkeit und Ausschweifungen. „Jede Kuhmagd muss einmal in Paris gewesen sein, aber den Baldeneysee oder das Sauerland kennt sie nicht.“ 

Für viele ist der streitbare Bußprediger der Nachkriegszeit ein ungeliebter Gast. Politiker versuchen vergebens, ihn und seinen Vortrag an den Stadtrand zu verbannen. Hilfe kommt von ganz oben. Ein Gewitterregen lässt viele Bottroper flüchten.

Der großzügige, stolze Platz war unser nostalgisches Kleinod mitten in der City. Mit Kirmes und Schützenfest, mit jeder Menge Polit-Prominenz im Wahlkampf und am 1. Mai, mit Kaninchen-Streicheln auf unserem  Wochenmarkt. Was wäre gewesen, wenn der ZOB den Platz nicht beschnitten, das Hansazentrum überlebt hätte. Wenn es das gute, alte Hallenbad noch geben würde; halb Bottrop hat dort Schwimmen gelernt. Viele Fragen, aber keine Antwort. Bin ich Pater Leppich? hätten wir früher gesagt.

Es liegt nahe, dass ich am Brauereiausschank der Westfalia-Brauerei nicht vorbeikomme. Einmal eben schnell reingucken, wer da ist und ein, zwei Bierchen trinken; nur selten bleibt es dabei, was Gerd bestätigen könnte. Bottrops bekanntester Oberkellner eilt mit Schweißperlen auf der Stirn, einem selbstzufriedenen Lächeln im geröteten Gesicht und gefüllten Gläsern von Tisch zu Tisch. Alles geht blitzschnell, ein Rechengenie wie er braucht keine Striche auf Bierdeckeln, keine Kasse für die Rechnung; die Zahlen sprudeln wie selbstverständlich aus ihm heraus. Mal ehrlich, Gerd: Wer von uns wollte, wer konnte überhaupt noch nachrechnen?  

1979 starb er, im Alter von 52 Jahren. Erst nach seinem Tod habe ich erfahren, dass Gerhard Gautner Opernsänger werden wollte. Sein Traum ging nicht in Erfüllung. Unser Gerd fand eine andere Bühne. 

Ich widerstehe der Versuchung zu versacken, mach mich auf den Weg. Am 12. März 1943 hatten Bomben das Kaufhaus Althoff, den 6000 Quadratmeter großen Einkaufstempel meiner Vorfahren, in Schutt und Asche gelegt,  die Wiedereröffnung am 25. Juni 1951 wird zum Volksfest. Menschenmassen drängen sich auf der Hansastraße zwischen Rickert und Althoff, auf dem Vordach schauen Sicherheitskräfte staunend herunter auf die neugierige Menge. Endlich.  Althoff hat die Sehnsucht nach dem Wirtschaftswunder in Beton gegossen. Der Traum ist anfassbar, kaufbar, es geht aufwärts, mit Rolltreppen und Fahrstühlen zum Konsum, zu Regalen und Tischen voller Waren. 

Bottrop-Schreiber Hermann Beckfeld und Gambrinus auf der Gastro Meile© FUNKE Foto Services

Das zweigeschossige Kaufhaus Althoff, das fünf Jahre später um drei weitere Etagen aufgestockt wird, hat magnetische Kraft, jubelt die WAZ in fetten Buchstaben. Der Gigant in der City lockt nicht nur Käufer an. Rebbelmund und Woolworth, aber auch kleinere Einzelhändler investieren, positionieren sich in bester Althoff-Nachbarschaft an Hansa- und Hochstraße für die Zukunft: Uhren Triffterer und Drogerie Frintrop, Berkel und Surmann, Mengede und Böhmer … 

Doch noch sind die Wege zur Fußgängerzone, zum Einkaufserlebnis holprig; mit Schmutz auf den Straßen, mit Löchern und Rissen im Kopfsteinpflaster, mit Stolperfallen, wo Schienen ausgebuddelt und Bürgersteige überflüssig werden. Egal, Bottrop, die Stadt des Bergbaus, lebt, feiert, kauft, gönnt sich was, während sich der Ruß des Fortschritts auf alte und neue Fassaden legt.

Lebensfrohe, aber noch prüde Zeiten, Skandal auf der Hochstraße 14: Gambrinus, der Patron des Bieres, schaut regungslos und hoch oben vom Giebel des Gebäudes auf das Treiben der Nachtschwärmer herunter. Vielleicht ist er auch nur eingeschnappt, weil in Bottrops erster Bar 1951 die erlebnishungrigen Gäste kaum Bier trinken. Der Champagner fließt an Theke und Tischen in gepolsterten Banknischen und im grünen Salon. Die Sperrstunde ist aufgehoben, die  Sünden der Nacht bleiben, wo sie hingehören, nämlich irgendwo zwischen dezenter Musik, abgedunkelten Lampen und schweren Teppichen. „Zum Gambrinus“ wird Jahre später abgerissen, doch sein Namensgeber auf dem Giebel überlebt das Kneipensterben. Die Galionsfigur der Biertrinker bekommt am Ende der Gla auf einem Sockel festen Boden unter die Füße, guckt herunter auf das Stadtcafe vom Schorsch, auf das König Pilsener Bierhaus, auf Ramonas Hürter, auf den Bottrop-Schreiber, der ihm zuprostet. Und schweigt.

Es sind viele, zu viele Kneipen, die wir vermissen.

Zurück am Pferdemarkt. Ein Absacker bei Schäfer, bevor aus dem Zapfhahn kein Bier mehr strömt und die Wirtschaft Ende der 50er Jahre dem Sparkassen-Neubau weichen muss. Es sind viele, zu viele Kneipen, die wir vermissen. So wie Reidick an der Kirchhellener Straße, ich höre noch die Chöre, die im Nebenraum proben. Oder das Hannen Fass an der Schützenstraße. Die Wirtschaft darf nicht fehlen, bittet mein Freund Ricardo. Hat er an der Theke auch seine Frau fürs Leben kennengelernt? 

Einer, der nicht genannt werden möchte, erinnert sich an seine Bundeswehrzeiten, die Heimfahrten am Wochenende, die Kneipen-Tour an der Essener Straße, u. a.  mit Böhmers Minchen, Brinkmann, Heger, Hullerum, Keisel, Lochtkemper, Mennekes, Pepping, Trappe, Trogemann, Ullrich, Westfälischer Hof. „Auf dem Weg vom Bahnhof zur Innenstadt habe ich an jeder Theke ein Bier getrunken und war schon schicker, als ich in der City angekommen bin.“ 

Die Alten Stuben. Eine Geschichte mit zu spätem Happyend. Wirt Erich Kaluza war ein Original, ein Lebenskünstler, ein Mann der flotten Sprüche. Er wollte unbedingt mit der legendären Werbung „Ich trinke Jägermeister, weil …“ auf die Rückseite des Fußballmagazins Kicker. Zufall. Fügung? Einen Tag nach seinem Tod geht der Wunsch in Erfüllung. 

Natürlich erinnere ich mich an Studio B. Ich habe jedes Detail der Disco im Kopf gespeichert. Die strenge Kontrolle am Eingang, der lange, abgedunkelte Weg, rechts die Wand, links die Theke und Tanzfläche. Auf der Rückseite die steile Treppe. Sie führt hinauf zu den Tischen. Ich stand immer an der untersten Stufe. Getanzt habe ich nie, ich war nur ein schüchterner Gucker.

Wenn der DJ voll aufdreht, hört man die Hits in der Schauburg gegenüber der St. Cyriakus-Kirche. Es gab damals jede Menge Kinos in der Innenstadt und den Ortsteilen: Scala, Thalia, Capitol, Bali, Deli, Universum, Roxy, Corso, Kamera und Glück-Auf. Aber ich liebte nur meine Schauburg. Mit roten Sesseln und Teppichen, hinten mit verschwiegenen Sperrsitzen und vorne mit der großer Bühne. Die Königin der Kinos zeigte zuerst die neuesten Filme; sie war ein Lichtspieltheater mit Charme und Würde. Am 4. April 1987 gingen für immer die Lichter aus, es wurde zappenduster auf der Leinwand. 

Ich stand bis zur unteren Hochstraße Schlange, um Winnetou, den Helden meiner Kindheit, sterben zu sehen. Ich träumte von seiner  Schwester, der wunderschönen Nscho-tschi. Ich hasste ihren Mörder, den Schurken Santer, gespielt von Mario Adorf. Unsere Wege kreuzten sich mehrmals, ich traf ihn zufällig  in Rom, Berlin, in München und später in Essen. Er ist ein wunderbarer Schauspieler, ein toller Mensch. Aber verzeihen werde ich dem Banditen nie.

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