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Sie heißt 469

Ich habe eine neue Freundin. Sie ist 800 Kilo schwer, hat ein wunderbares schwarz-weißes Fell und treue Augen. Sie sieht sehr zufrieden aus. Kann sie auch. Denn erstens hat sie bereits ihre erste Runde des Tages auf dem Melk-Karussell gedreht, und zweitens wird sie von mir gerade gefüttert, Schüppe für Schüppe zum Nachtisch.

Meine Kuh hat keinen Namen, sie heißt 469. Ihre Nummer steht in gelben Zahlen auf dem Halsband und auf dem Chip im linken Ohr. Der macht sie zu einem gläsernen Rindvieh, das fünf Jahre alt ist, aus dessen Euter täglich bis zu 35 Liter Milch gepumpt werden, das 80 bis 100 kg Futter frisst, drei Kälbchen geboren hat und kerngesund ist. Der Chip speichert alles, auch die Körpertemperatur. Einen Datenschutzbeauftragten gibt es in den Ställen von Martin Steinmann nicht.

Bottrop-Schreiber Hermann Beckfeld auf dem Bauernhof© FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Der 43-jährige Landwirt leitet mit seinen Partnern Ralf Abeld und Josef Peters die Dringenburg-Milchbetrieb GbR, hat von der Pike auf gelernt, Bauer zu sein. Er füttert mich mit Zahlen und Informationen. Seine 750 Kühe geben täglich mehr als 25000 Liter Milch, die von Tankwagen zu einer Molkerei im holländischen Friesland gefahren werden. Sie bleiben ganzjährig in den Ställen, können sich hinter Gittern frei bewegen; wer will, den massiert eine Riesen-Rolle den Rücken. Sie werden drei Mal am Tag gemolken.

Von ihrem Platz aus trotten die Vierbeiner freiwillig zum Melken, Mitarbeiter prüfen stets die ersten Tropfen Milch. Im Durchschnitt bleiben die Rindviecher sechs, sieben Jahre an der Dringenburg, ehe sie auf ihre erste und letzte Reise gehen. Bis zum Schlachthof sind es nur 40 Kilometer. „Wir wollen unseren Tieren möglichst viel Stress ersparen.“

420 Tage lang sind Kühe trächtig, bis ihr Kalb geboren wird

420 Tage lang sind Kühe trächtig, bis ihr Kalb geboren wird; nur ganz selten brauchen sie Geburtshelfer. Danach genießen sie bis zu drei Monaten Mutterschutz. Auch wenn es unromantisch klingt: Direkt nach der Geburt werden die „Babys“ von ihrer Mutter getrennt. „Nur so haben wir Sicherheit, dass die Kälber genügend Milch trinken.“

Für Martin Steinmann stand schon frühzeitig fest, dass er den Bauernhof übernehmen wird, „ich bin in den Betrieb hineingewachsen, hatte das Glück, viel von meinem Vater abzuschauen“. Bernhard Steinmann starb vor einem Jahr. Das Kirchhhellener Urgestein hinterlässt große Spuren, unter anderem als CDU-Politiker und stellvertretender Bezirksbürgermeister, als Hauptmann der 4. Kompanie der Brezelgesellschaft und Brezeldirektor.

Bernhard Steinmann stellte schon vor Jahren seinen Hof für die Bauernolympiade zur Verfügung. Wie der Vater so der Sohn: Martin hält an dieser Tradition fest, auch wenn er für die Organisation vor dem Volksfest mindestens eine Woche Urlaub nehmen muss. Danach braucht er zwei bis drei Tage, um sich zu erholen. 

Er ist stolz auf die Geschichte des Hofs, der 1556 erstmals erwähnt wurde. Martin Steinmann sitzt mehr am Computer als auf dem Trecker, seine Frau Tanja arbeitet im Büro, Mutter Mechthild  hilft im Haushalt.

Ein Geständnis vorab: Bisher hatte ich mit dem Brezel-Brauch nicht viel am Kopf. Chancen hätte ich genug gehabt, schließlich werfen die Kirchhhellener schon seit 1883 mit Holzknüppeln, um ihren König zu bejubeln, damals übrigens noch auf einen Stuten. 

Und jetzt? Da duftet, riecht es nach frischen Brötchen und Kuchen aus heißen Öfen, nach Mehl in der Luft. Ich bin mittendrin in der Bäckerei von Markus Kläsener und damit auch in der Historie der Brezel-Gesellschaft, habe eine weiße Schürze um. Vor mir liegt ein Berg von Teig, den der Chef persönlich hergestellt und geknetet hat. Teig aus hauseigenem Emmermehl, ein Urgetreide, angebaut auf heimischem Boden. 

Brezel backen bei Kläsener© FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Aus acht Kilo soll ich formen, backen, was Kirchhellener brauchen, um alle drei Jahre im Ausnahmezustand sich und ihr Dorf zu feiern – ein Riesen-Brezel. Nun gut: Das Original für das Schützenfest Anfang September wird 16 Kilo wiegen, schließlich sollen die Königs-Kandidaten das Ziel nach vielen Bierrunden und langen Nächten nicht verfehlen. 

Bisher vertraute ich Dr. Oetker und seinen Fertigmischungen, jetzt steht der oberste Brezel-Bäcker an meiner Seite. Seit 33 Jahren stolzes Mitglied der Gesellschaft. So ganz überzeugt scheint Markus Kläsener von seinem Tages-Azubi nicht zu sein, er packt vorsichtshalber mit an. Gemeinsam breiten wir den Teig aus, plätten ihn auf eine gefühlte Länge von zwei Metern. Jetzt muss ich den Teig einrollen, von unten, von oben, bis ich die beiden Würste aufeinanderlegen kann. Kurz und gut, besser schlecht: Am Ende starrt mich traurig ein Krake mit zwei verknoteten Armen an; allein schon aus Mitleid würde niemand einen Knüppel auf das arme Tier werfen.

Ich bin auf den Geschmack gekommen, tauche ein in die Chronik der Gesellschaft, die zuweilen skurrile Geschichten schrieb. Einmal musste das Königswerfen eingestellt werden, bis die zwei Kandidaten wieder auftauchten. Sie waren spurlos verschwunden, hatten sich für das Finale gestärkt, nach eigenen Angaben mit einer deftigen Mahlzeit, was aber nicht überprüft werden konnte. 1960 zeigte erstmals das Fernsehen Interesse an dem Volksfest, der Bericht kam nicht gut an. Das TV-Team hatte wohl allzu heftig mitgefeiert.

Die Tradition, sie lebt. Das ganze Dorf fiebert dem Ereignis entgegen

Die Tradition, sie lebt. Das ganze Dorf fiebert dem Ereignis entgegen, das Volksfest lockt Zehntausende beim Umzug an den Straßenrand und häufig mehr als 1000 Bewerber, die auf das Brezel von Markus Kläsener ihre Knüppel schleudern. Er erzählt gerne die Anekdote aus dem Jahr 1977 von seiner Mutter, die am Stand Brezel verkaufte und nachfragte, wer denn eigentlich König geworden sei. Bei der Antwort fiel sie aus allen Wolken: Ihr Mann ließ sich gerade auf den Schultern der Brezel-Brüder ins Zelt tragen.

Markus Kläsener führt den Familienbetrieb, der 1938 von seinem Großvater gegründet wurde. Sein Betrieb ist ein Bekenntnis zur Heimat: Die Erdbeeren, Äpfel und Pflaumen wachsen im Umkreis von 2000 Metern der Bäckerei, die Eier legen Hühner, die in unmittelbarer Nachbarschaft leben. Er verwendet nur Getreide, auf heimischem Boden gesät, gedüngt und geerntet vom Bauernhof Overgünne. 

Schon so mancher Kandidat versuchte vergeblich, ein Brezel in der Wettbewerbsgröße zu bestellen, um zu üben. Er lehnt das ab – und ich werde es auch tun. Versprochen, Chef! 

Es ist vollbracht© FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Irgendwann während des Gesprächs in seinem Wohnzimmer holt Jochen Königshausen aus dem Obergeschoss einen Bilderrahmen. Zur Erinnerung an die unerträglichen Schrecken des Zweiten Weltkriegs hat er die Fotos der Brüder von Oma Irene nebeneinandergestellt. Darunter stehen die Todesanzeigen, zum Gedenken an drei Männer und ihr sinnloses Sterben: Erbhofbauer Hans-Egon Bauckholt, Grenadier, geboren 5. Januar 1922 zu Kirchhellen, gefallen 1. August 1943 im Osten. Jungbauer Aloys Bauckholt, geboren 21. Juli 1925 zu Kirchhellen, gefallen 10. August 1944 im Westen. Rudolf Bauckholt, Panzergrenadier, geboren 15. Februar 1927 zu Kirchhellen, gefallen 18. Februar 1945 in Ostpreußen. 

Schwester Irene hat 1943 ihren Hugo geheiratet. Dr. Hugo Königshausen aus Düsseldorf, Jurist und Gemeindedirektor. Ein feiner Mann, aber kein Bauer. Landwirtschaft interessiert ihn nicht. Im September 1945 kehrt er aus der Kriegsgefangenschaft zurück, steht vor der Tür des Hauses und wird von seiner Schwiegermutter nicht erkannt. Sie fragt: „Wer bist du denn?“ 1980 stirbt Hugo.

Auf der 5000 Quadratmeter großen Freilandfläche grasen tagsüber 600 Hühner

Irene plagen Existenzsorgen, sie bangt um den Familienbesitz, der 1222 erstmals erwähnt wird. Wie soll es weitergehen, wer soll sich um Vieh und Felder kümmern? Also packt sie selbst mit an, eine couragierte Frau, die nach dem Tod des Vaters den Hof führt, bis Sohn Rudolf 1968 die Verantwortung übernimmt. In vierter Generation leitet nun Jochen Königshausen den Betrieb, der sich im Laufe der Jahre gewandelt hat – von der bäuerlichen Landwirtschaft bis zur Vermarktung von Schafen und Rindern mit eigenem Schlachtbetrieb, später auch mit einer Schnapsbrennerei bis hin zur Direktvermarktung von Fleisch. Kunden ernten Gemüse wie Spinat und Bohnen auf den Königshausener Feldern, pflücken Obst, jetzt auch Pflaumen.

Im Hofladen, geöffnet von Juli bis September, können sie heimische Produkte kaufen oder Zwiebeln, Kartoffeln und Eier rund um die Uhr aus dem Automaten ziehen. Die Eier kommen ganz frisch aus dem fahrbaren grünen Hühner-Hotel. Auf der 5000 Quadratmeter großen Freilandfläche grasen tagsüber 600 Hühner, am Abend ziehen sie sich in ihren vierrädrigen Holzstall zurück, die Rollladen gehen automatisch um 22 Uhr herunter. 

Wie vielen anderen Landwirten auch gefällt Jochen Königshausen die immer mehr werdende Büroarbeit nicht. Lieber wäre er an der frischen Luft, bei seinen Hühnern, auf den Feldern, würde er mit anpacken – so wie seine Großmutter Irene nach dem Krieg. Der Bilderrahmen mit den Fotos und Todesanzeigen ihrer Brüder erinnert Jochen Königshausen nicht nur an die jungen Männer. Der Bilderrahmen erinnert ihn an seine Oma, die nicht aufgab und alles für den Hof der Familie gab. 

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